Dienstag, 11. Dezember 2007

Das "Ich habe nichts zu verbergen" - Phänomen

"Ich habe doch nichts zu verbergen" ist das Standard-Argument vieler Bundesbürger, wenn man sie auf die zunehmende Überwachung und deren negative Folgen hinweist.


Datenspeicherung, Data Mining
Das Problem, welches immer unterschätzt wird, ist, dass Daten, die einmal freigeben wurden (egal, ob im Internet oder im wirklichem Leben) auch an weitere Institutionen und Menschen weitergegeben werden können. Da dies an mehreren Stellen gleichzeitig passieren kann, fügen sich nach einer Weile die Daten zu einem Gesamtbild zusammen und man wird zu einem gläsernen Bürger. Und dabei können selbst die Einkaufslisten eines Menschen sehr aufschlussreiche Hinweise liefern. Daher sollte man selbst bei sogenannten Bonus-Programmen in Supermärkten vorsichtig sein.

Unabhängig davon, ob man theoretisch wirklich nichts zu verbergen hat, sollte man sich fragen, wieso diese Daten überhaupt irgendwen irgendetwas angehen sollen? Und man muss sich auch im Klaren darüber sein, dass die Daten, die man - etwa im Rahmen einer Umfrage - an eine Institution oder ein Unternehmen weitergegeben hat, ihrerseits auch wieder weitergereicht werden können an nicht-vertrauenswürdige Stellen. Es ist sehr leicht möglich, die Kontolle über seine Daten zu verlieren. Desweiteren können diese Daten auch verfremdet werden, wenn sie ohne den entsprechenden Kontext weitergegeben werden.

Außerdem ist damit zu rechnen, dass diese Daten sehr lange aufbewahrt werden. So kann etwa die Möglichkeit entstehen, dass eine dumme Tat im Alter von 16 Jahren das ganze weitere Leben zu verbauen vermag. Unter Umständen können spätere Arbeitgeber an diese Daten herankommen und diese als Kriterium nutzen, diesem Menschen eine Einstellung zu verunmöglichen. Von daher erwächst uns eine Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen, eben dieser Datensammelwut einen Riegel vorzuschieben!

Menschen begehen Fehler - das ist eine Tatsache, die an sich allerdings noch lange nicht verwerflich ist. Diejenigen, die diese Fehler aber aus einer sehr subjektiven Perspektive betrachten, können leicht zu falschen Schlüssen kommen. Denn auch wenn sie sehr viele Daten über eine Person haben, wird es nie möglich sein, über alle bezüglich eines Ereignisses relevanten Informationen zu verfügen. Zum Beispiel könnte sich eine Scheidung bezüglich der Arbeitskarriere eines Menschen sehr negativ auf seinen Lebenslauf auswirken, da sie mitunter geeignet ist, den Eindruck zu erwecken, dass man nicht zu seinen Entscheidungen stehe.
Wissen ist Macht, darüber sollte sich jeder im klaren sein. Und diese Macht kann missbraucht werden. Wie werden zum Beispiel zukünftige Regierungen mit den Daten umgehen? Man möge sich beispielsweise vorstellen, die NSDAP hätte auf die Datenbank zurückgreifen können, die 2005 von der Polizei in Nordrhein-Westfalen über Homosexuelle erstellt wurde).
Man sollte sich vor Augen führen, was es für die Meinungs- und Pressefreiheit bedeuten kann, wenn Informanten von Journalisten sich nicht mehr trauen, Informationen zu beschaffen, weil sie Konsequenzen befürchten müssen.

Hat nicht jeder etwas zu verbergen? Eigenschaften und Verhaltensweisen, die ethisch vollkommen unverwerflich sind, können trotzdem sozial geächtet werden und zur Diskriminierung führen:

- Homosexualität noch vor wenigen Jahren (teilweise auch noch heute)
- Zugehörigkeit zu einer religiösen oder politischen Gruppe, die gerade nicht in Mode ist
- Liebeleien, Seitensprünge, Affären
- Überraschungen
- seltsame Vorlieben (bspw. andersgeschlechtliche Unterwäsche tragen)
- Sucht (warum sonst sind Sucht-Beratungs-Zentren NICHT gekennzeichnet?)
- Kontobewegungen
- Krankheiten
- Jugendsünden
- Zwangsstörungen (z.B. Waschzwang) und Neurosen, die als peinlich empfunden werden etc.

Das "Zurück in die Linie"-Phänomen
Am Beispiel von England, wo inzwischen bereits Lautsprecher bei den Kameras installiert werden, kann man erahnen, dass Überwachungsdruck auf Dauer zu einem konformistischen Verhalten der Menschen führen wird, da jedwedes (in den Augen der Überwacher) abnorme Verhalten sofort "bestraft" werden kann. Wer unter Bewachung steht, kann verstärkt für sein Verhalten kritisiert und zur Rechenschaft gezogen werden und wird dadurch stark in der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit gehemmt. Der entstehende Druck, sich möglichst normkonform zu verhalten, um nicht aufzufallen oder aus der Reihe zu tanzen, begünstigt sowohl Intoleranz gegenüber Andersartigen als auch eine Einheitsgesellschaft, die zu geistigem oder sozialem Stillstand zu führen vermag, da Innovationen und gesellschaftliche Weiterentwicklungen meist von Querdenkern und Individualisten vorangetrieben wurden.

Gegenfloskeln
Wenn die Floskel "Ich hab doch nichts zu verbergen" vorgebracht wird, sollte man etwas dagegensetzen können. Einige Beispiele:
- Schließen Sie die Toilettentür hinter sich? Warum eigentlich, wo Sie doch nichts zu verbergen haben?
- Wenn ich nichts zu verbergen habe, braucht mich auch niemand zu überwachen.
- Wer soll den Spaß bezahlen? (Steuern)
- Warum tragen Sie in Innenräumen oder im Sommer eigentlich Kleidung?
- Diese Aussage muss doch wohl eher lauten: 'wer hörig / opportun ist oder sich unterwürfig zeigt / dem System nutzt bzw. dem System nicht schadet, hat nichts zu befürchten'!
- Jeder Mensch hat etwas zu verbergen, und sei es nur seine Privatsphäre.
- Erzählen Sie mir von ihrem Sexualleben und zeigen Sie mir ihr Tagebuch.
- Zeigen Sie mir doch mal ihre letzte Gehaltsabrechnung.

Umkehrung der Unschuldvermutung
In der Tradition des römischen Rechtssystemes galt der Grundsatz: "Im Zweifel für den Angeklagten". Konnte der Ankläger vor Gericht nicht die Schuld des Angeklagten beweisen, musste dieser freigesprochen werden. Dieses Prinzip gilt bis heute. Der Grund ist klar: Schutz vor falschen Anschuldigungen. Dem Angeklagten steht somit das Recht zu, bei der Aufklärung einer Anklage nicht mitzuwirken ("Sie haben das Recht zu schweigen!"). Dieses Prinzip geht sogar so weit, selbst nahen Angehörigen dieses Recht zuzugestehen.

Wird dem Prinzip "Ich-habe-nichts-zu-verbergen" noch mehr Raum eingeräumt, besteht die absolute Gefahr, dass das Prinzip der Unschuldsvermutung zunächst aufgeweicht und im Anschluss daran abgeschafft wird. Das bedeutete das Ende jeglichen freiheitlichen und demokratischen Lebens, die Vernichtung eines gerechten Rechtssystems mit Chancen für den Angeklagten und ein Brutkasten von Verdächtigungen und Anschuldigungen jeglicher Form.
Folglich läuft das Prinzip "Ich-habe-nichts-zu-verbergen" auf die faktische Abschaffung unseres Rechtssystems hinaus, also genau auf das Gegenteil von dem, was die Befürworter des Datensammelwahns als "Sicherung" und "Verteidigung" unserer Demokratie und unseres Rechtssystems anführen.

„Beweisen Sie meine Schuld, das sieht unser Rechtssystem so vor…“ wäre insofern die richtige Antwort auf dementsprechende Aufforderungen. „

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Author: Anonymous Contributors
Publisher: überwachungsdruck.org.
Date of this revision: 23 November 2007 22:12 CET
Date retrieved: 11 December 2007 12:56 CET
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