Donnerstag, 21. April 2011

Gott wird dieses Land behüten


Kennen Sie diesen Begriff: "Straßenköter"? Ich fand es schon immer unerträglich, dass man ihn für Hunde verwendet, nicht aber für Menschen, die sich so verhalten oder so aussehen. Aber die Welt ist voller Gesindel und Dreck. Traurig, aber wahr. Von der einstigen Schönheit des Blauen Planeten ist nicht mehr viel über geblieben. Aber wir geben uns Mühe, dies zu ändern. Und wir haben große Erfolge erzielt. Unser Land hier ist vielleicht nur mehr blau, aber auch nicht mehr so grau wie vorher, es ist sozusagen auf dem Weg zurück. Zurück zur Schönheit, zurück zu seinen Werten. 

Es war ein hartes Stück Arbeit, aber wer hätte sich denn der Bitte der Bevölkerung verschließen können? Nachdem es - nur kurz nach dem Anbruch des neuen Jahrtausends - überall im Ausland zu Attentaten kam, bei dem die Menschen wie die Fliegen starben, sehnte man sich nach Sicherheit. 

Und die Regierung tat alles, um diese Sicherheit zu bieten. Aber durch die allzu liberalen, einem realitätsfremden freigeistigen Gehirn entsprungenen, Gesetze war dies schwierig, es gab zu wenig Befugnisse. Viel zu oft kamen Leute mit ihren illegalen Aktivitäten durch, weil es Datenschutz und solche Dinge gab. Das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung konnte nicht annähernd gestillt werden, also wurde es Zeit für Reformen. Die Sicherheits- und Freiheitsreform, die Ende 2003 verabschiedet wurde, hatte drei Eckpfeiler: 

  • Vorübergehendes Aussetzen des Datenschutzes, was staatliche Behörden sowie Strafverfolger jeglicher Staaten angeht, bis sich ein genügend großes Sicherheitsgefühl bei der Bevölkerung eingestellt hat.
  • Speicherung von Verbindungsdaten, sowie den zu ihrer Zuordnung zu natürlichen Personen notwendigen sonstigen Daten, bis sich ein genügend großes Sicherheitsgefühl bei der Bevölkerung eingestellt hat
  • Wiedereinführung der Todesstrafe bei bestimmten Delikten, bis sich ein genügend großes Sicherheitsgefühl bei der Bevölkerung eingestellt hat.
Die Novellierung im Jahr 2004 sah vor, dass diejenigen, die versuchen, die Strafverfolger bei ihrer Sicherheitstätigkeit zum Wohle der Bevölkerung zu behindern, mit entsprechenden Haftstrafen sowie Geldstrafen zu belegen sind. Dies bedeutete unter anderem ein Verbot von Anonymisierern, von Kryptographie und von anonymen Remailern. Eine begleitende Werbekampagne sagte es deutlich: "Übernehmt Verantwortung für Eure Taten!"
 
Nach der Novellierung kam es zur Abwanderung vieler Unternehmen ins Ausland. Nach den offiziellen Erklärungen lag es daran, dass man vermehrt Industriespionage fürchtete, doch es lag nahe anzunehmen, dass es sich um Firmen mit dubiosem Geschäftsgebaren handelte. 

Die Arbeitslosigkeit nahm durch dieses verantwortungslose Handeln natürlich zu - und es gab ja auch die ganzen Arbeitsunwilligen, die sich Atteste holten, um mit 40 Jahren nicht auf dem Bau arbeiten zu müssen zum Beispiel. Auf den Attesten fanden sich solche verlogenen Ausreden wie Skoliose. Es musste also etwas getan werden. Wir fanden eine Lösung. 

Jeden Montag fuhr ein Sonderzug mit den Arbeitslosen in die benachbarten Länder, wo es Aufgaben wie Straßenbau, Tunnelbau und dergleichen zu erledigen gab. Gemeinnützige Arbeit war dies und insofern im Sinne der Bevölkerung. Das verstanden leider nur die Wenigsten. 

Als sich die Lage verschlechterte (wie diese Leute fanden), suchten viele Leute wieder Zuflucht in der Religion. Werte wie christliche Nächstenliebe und Familie wurden neu definiert, genauso wie ein Leben im Sinne der christlichen Weltanschauung. Wir hatten schon immer gesagt, dass Werte wichtiger als alles waren und waren froh, diese wieder predigen zu können. Leider wurden diese jedoch mittlerweile fehl interpretiert. Unter Familie verstand man auch zwei Männer mit einem adoptierten Kind, unter christlicher Nächstenliebe verstand man es auch, irgendwelche Schmarotzer zu unterstützen und so weiter. Wir mussten einschreiten.
Wir lehrten die Religion wieder so, wie sie gedacht war, und wir erläuterten, warum Bevölkerungsschädlinge wie Drogensüchtige, Kleinkriminelle und Homosexuelle größere Schäden anrichteten als man sich vorstellen konnte. Die Menschen sogen unsere Werte in sich auf wie die Wohlgerüche Arabiens. Und wir handelten.
Innerhalb kürzester Zeit wurde ein Gesetz zur Wahrung der Bevölkerungsunterstützenden Werte verabschiedet, das die Trennung von Staat und Kirche solange vorübergehend außer Kraft setzte, bis sich ein genügend großes Sicherheitsgefühl und Gefühl der Zufriedenheit bei de Bevölkerung eingestellt hatte. 

Das Amt für Gesundheit und Ernährung fand eine kreative Methode, wie man die Bevölkerungsschädlinge zu Bevölkerungsnützlingen transformieren konnte, und die graue Zeit schien beendet. 

Mit Hilfe der seit fünf Jahren gespeicherten Post-, Telefon-, E-Mail- und Surfdaten konnten wir durch Eingabe entsprechender Suchbegriffe schnell verdächtige Personen herausfiltern, die wenig Kontakt zu Frauen hatten, aber öfter Kondome kauften und sich auch mal auf Schwulenseiten begaben; die laut Meldeauskunft mit einem Partner gleichen Geschlechtes zusammen lebten und so weiter. 

Der Begriff "gleichgeschlechtlich" wurde im Zusammenhang mit Beziehungen und Partnern durch den Begriff "widernatürlich" ersetzt. Um letztendlich dann auch gegen die Kriminalität in den eigenen vier Wänden angehen zu können, wurde das Gesetz zum Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Züchtigung, Misshandlung und negativen Einflüssen verabschiedet. Ein entsprechendes Computerprogramm machte es nun möglich, jederzeit Zugriff auf visuelle Daten jeglicher Wohnung zu nehmen. 

Eine Zeitlang gab es noch viel Vandalismus in den Wohnungen, die Schutzvorrichtungen, von vielen scherzhaft "unser großes Brüderchen" genannt, wurden zerstört. Doch nachdem entsprechend hohe Strafen durchgesetzt wurden, gab sich das. 

Wenn wir heute nach draußen gehen, sehen wir ein Land, das auf dem Weg nach vorn ist. Wenig Dreck, wenig Arbeitslose, keine Ernährungskrise mehr, kein Fehlverhalten der Bevölkerung mehr. Wir sind ein glückliches Land. Aber wir dürfen uns nicht in unseren Erfolgen sonnen. 

Erst gestern hat sich wieder jemand seiner Bevölkerungsnützling-Pflicht entzogen und seine Lebensvorgänge gewaltsam beendet. Wir benötigen also noch mehr, die die Daten zeitlich gerecht auswerten und einschreiten. Es wird darüber nachgedacht, die Bevölkerung von kleinen Wohnungen in größere Wohnungen zu 100 oder 200 Leuten unterzubringen, um sie besser im Blick haben zu können, damit solche Sozialschmarotzer sich nicht so einfach ihrer Pflicht entziehen können. 

Es ist mir in diesem Zusammenhang besonders peinlich, dass dieser verantwortungslose Mensch sich auch noch in seinen Abschiedsworten, die er auf den Fußboden kritzelte, nicht seiner Verantwortungslosigkeit bewusst war, sondern vielmehr auf "das unerträgliche Leben in diesem Land, die permanente Kontrolle und die Verhinderung jeglicher Individualität" heraus redete. Und dass dieser Jemand auch noch meine Frau war. 




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